Cover
Titel
Habit Forming. Drug Addiction in America, 1776–1914


Autor(en)
Gray, Elizabeth Kelly
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 337 S.
Preis
£ 94.00 / $ 130.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristoff Kerl, University of Copenhagen

Die Geschichte des psychoaktiven Substanzgebrauchs und der Drogenpolitiken in den Vereinigten Staaten haben bereits in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit einiger Wissenschaftler:innen auf sich gezogen.1 Seit der Jahrtausendwende haben diese thematischen Felder einen weiteren Aufmerksamkeitsschub erfahren, wozu sowohl die Debatten um die Legalisierung/Entkriminalisierung von Cannabis als auch die bis heute wütende „Opioidkrise“ beigetragen haben dürften.2 Während diese Arbeiten zeitlich überwiegend das späte 19. Jahrhundert und insbesondere das 20. Jahrhundert fokussieren, blieb die frühere Geschichte des Drogenkonsums von der historisch orientierten Forschung bisher weitgehend unbeleuchtet.

An dieser Leerstelle setzt Elizabeth Kelly Gray mit ihrem Buch „Habit Forming“ an. Darin setzt sich Gray mit Substanzgebrauch und -abhängigkeit in den USA zwischen 1776 und 1914 auseinander – ein Zeitraum, in dem es in den Vereinigten Staaten fast keinerlei föderale Gesetzgebungen gab, die den Gebrauch, die Vermarktung und die Distribution von Drogen regulierten. Vor diesem Hintergrund untersucht sie die in ihrem Untersuchungszeitraum in den USA zirkulierenden Verständnisse von Substanzkonsum und -abhängigkeit, nimmt aber auch globale Einflussgrößen in den Blick, die die zeitgenössischen Diskurse beeinflussten. Dabei berücksichtigt Gray die Wirkmacht von Kategorien wie race, class und Geschlecht und kann zeigen, dass Drogengebrauch primär dann problematisiert wurde, wenn er mit marginalisierten sozialen Gruppen in Verbindung stand beziehungsweise gesetzt wurde. Eine große Bedeutung für die Bewertung der verschiedenen Drogensubjekte kam dabei der tatsächlichen oder vermeintlichen Motivation zum Konsum zu. Hier unterscheidet Gray zwischen dem im Untersuchungszeitraum weitverbreiteten medizinischen Gebrauch, „restaurativem“ Konsum, der darauf abzielte strapaziöse Arbeitstage oder andere alltägliche Belastungen und Sorgen leichter zu ertragen, sowie einem primär auf Vergnügen ausgerichteten Drogenkonsum.

„Habit Forming“ gliedert sich in drei Teile, die sich wiederum jeweils aus drei Kapiteln zusammensetzen. In dem ersten Abschnitt „Hidden Drug Use in America“ untersucht Gray Drogengebrauch und Verständnisse von Abhängigkeit seit der Gründung der USA bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dem ersten Kapitel richtet sie dabei das Hauptaugenmerk auf Opiatkonsum vor 1842. In diesem Zeitraum wurden Opiate, wie auch später noch, oftmals zu medizinischen Zwecken konsumiert. Häufig waren die Nutzer:innen weiße Frauen aus der Ober- und Mittelschicht. Während unter einigen Medizinern bereits ab den 1830er-Jahren Konzepte wie Abhängigkeit und Toleranz(entwicklung) zirkulierten, sah der Großteil der Ärzte Opiate nach wie vor als unbedenklich an oder verstand fortdauernde Opiatabhängigkeit als Ausdruck mangelnder Willensstärke. Eine massive Zunahme des Opiatkonsums vollzog sich in den Jahren zwischen 1842–1867 (Kapitel 2). Der Bürgerkrieg (1861–1865) und der damit einhergehende Bedarf an Schmerzmitteln waren ein Grund für diese Entwicklung, aber bereits davor waren die Importe von Opium in Folge dessen zunehmender medizinischer Verwendung stark gestiegen. Die sich mitunter herausbildenden Abhängigkeiten verblieben jedoch weiterhin zumeist im Verborgenen. Während sich die ersten beiden Kapitel primär dem Gebrauch von Opiaten annehmen, richtet Gray den Untersuchungsfokus im nachfolgenden Kapitel auf Haschisch, das in den 1860er-Jahren einen Popularitätsschub in Teilen weißer Mittelschichten erfuhr. Gleichzeitig war Cannabis in den Vorstellungswelten vieler US-Amerikaner:innen wie etwa Fritz Hugh Ludlow, dem ersten US-Amerikaner, der seine Drogenautobiographie publizierte, eng mit fernöstlichen Kulturen und deren vermeintlicher Unproduktivität und Trägheit verknüpft.

Im zweiten Teil des Buches nimmt Elizabeth Kelly Gray globale Entwicklungen und Einflussgrößen in den Blick, die US-amerikanische Vorstellungen von Drogenkonsum und Abhängigkeit mitprägten. Für viele US-Amerikaner:innen waren Reiseberichte, in denen über Substanzgebrauch in Ländern Asiens, Afrikas und des Mittleren Ostens berichtet wurde, die ersten Texte, die sie mit nicht-medizinischem Drogengebrauch und Abhängigkeit bekannt machten. Auf diese Weise trugen Reiseberichte wesentlich dazu bei, dass sich im 19. Jahrhundert in den USA Sichtweisen ausbreiteten, die den Drogengebrauch nicht-weißer Gesellschaften mit deren vermeintlicher Rückständigkeit in Verbindung setzten. Auch der Opiatkonsum in Großbritannien beeinflusste die in den USA während des 19. Jahrhunderts zirkulierenden Vorstellungen von Drogen (Kapitel 5). Schriften wie Thomas De Quinceys „Confessions of an English Opium-Eater“ wurden in den USA in zahlreichen Zeitschriften besprochen und brachten ins öffentliche Bewusstsein, dass Opiatabhängigkeit nicht bloß ein Problem nicht-weißer Gesellschaften sei. Dennoch lebte die diskursive Verknüpfung von Opiatabhängigkeit und fernöstlichen Gesellschaften fort, wozu die beiden Opiumkriege zwischen China und Großbritannien nicht unwesentlich beitrugen (Kapitel 6). Zudem erhielten viele US-Amerikaner:innen durch die Berichterstattung zu den Opiumkriegen erstmals Einblicke in den internationalen Opiumhandel und kamen zu dem Schluss, dass es das Recht einer Gesellschaft sei, die Distribution und den Konsum von als gefährlich erachteten Substanzen mit rechtlichen Mitteln zu unterbinden, da Drogenabhängigkeit eine fundamentale Bedrohung für ganze Gesellschaften darstelle.

Der dritte und letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit dem Zeitraum zwischen 1867 und 1914 – eine Phase, in der Drogenabhängigkeit in den USA einen enormen Aufmerksamkeitsschub erfuhr und zu einem öffentlichen Problem wurde. Eine wichtige Rolle in den oftmals rassifizierten Debatten um Abhängigkeit spielten sogenannte opium dens, mit denen sich Elizabeth Kelly Gray in Kapitel 7 auseinandersetzt. Opium zu rauchen war nach Alkohol- und Tabakkonsum die sichtbarste Form des gewohnheitsmäßigen Drogengebrauchs. Zunächst primär von chinesischen Arbeitsmigranten konsumiert, wurde es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Bestandteil des damals enorm wirkmächtigen anti-chinesischen Rassismus. Aber auch andere psychoaktive Substanzen wurden vor dem Hintergrund rasant steigender Zahlen an Abhängigen seit den 1860ern zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Debatten (Kapitel 8). Dies führte einerseits zur Durchsetzung einer medikalisierten Sicht auf Abhängigkeit unter Ärzten, die diese nun als Krankheit und nicht mehr als Resultat von Willensschwäche verstanden. Andererseits blieb Abhängigkeit in der Öffentlichkeit weiterhin stigmatisiert, was dazu führte, dass viele Betroffene sich aus Scham selbst therapieren wollten und zu diesem Zweck auf vermeintliche Heilmittel zurückgriffen, die oftmals selbst Opiate enthielten. Obwohl ab den 1890er-Jahren die Zahl der Abhängigen rückläufig war, kam es um 1900 zu vermehrten Bemühungen, Drogenkonsum mit legislatorischen Mitteln zu begegnen (Kapitel 9). Ursächlich für die bundesstaatlichen und föderalen Interventionen, die zu der Verabschiedung des Harrison Narcotic Act im Jahr 1914 führten, war eine Verschiebung in der sozialen Struktur der Abhängigen. Stammten diese vormals häufig aus der weißen Mittelschicht und waren im Kontext medizinischer Therapien und Behandlungen erstmals mit Opiaten in Berührung geraten, setzten sich die Gruppe der Substanzabhängigen um die Jahrhundertwende zunehmend aus jungen Männern zusammen, die aus marginalisierten sozialen Gruppen stammten und die Drogen nicht aus medizinischen Gründen konsumierten, sondern aus Vergnügen beziehungsweise restaurativen Motiven.

„Habit Forming“ erweitert unser Verständnis der Geschichte des Drogengebrauchs in den USA in bedeutender Weise. Zwar gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln mitunter inhaltliche Überschneidungen, was zu Redundanzen führt, und auch der rote Faden könnte in einigen Passagen des Buches deutlicher erkenntlich sein, aber durch seine zeitliche Ausweitung der bisherigen Forschung zu Drogengebrauch in den USA stellt das Buch eine willkommene Bereicherung der bisherigen Forschungslandschaft dar.

Anmerkungen:
1 David T. Courtwright / Herman Joseph / Don Des Jarlais, Addicts Who Survived. An Oral History of Narcotic Use in America, 1923–1965, Knoxville 1989; H. Wayne Morgan, Drugs in America. A Social History, 1800–1980, Syracuse 1981; David Musto, The American Disease. Origins of Narcotic Control, New Haven 1973.
2 Diana L. Ahmad, The Opium Debate and Chinese Exclusion Laws in the Nineteenth-Century American West, Reno 2007; Helena Barop, Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA, 1950–1979, Göttingen 2021; Timo Bonengel, Riskante Substanzen. Der «War on Drugs» in den USA (1963–1992), Frankfurt/Main 2020; David T. Courtwright, Dark Paradise. A History of Opiate Addiction in America, Cambridge 2001; ders., Forces of Habit. Drugs and the Making of the Modern World, Cambridge 2002; Kathleen J. Frydl, The Drug Wars in America, 1940–1973, Cambridge 2013; Timothy A. Hickman, ‚Mania Americana‘. Narcotic Addiction and Modernity in the United States, 1870–1920, in: Journal of American History 90, Nr. 4 (2004), S. 1269–1294; Kristoff Kerl, Psychedelic Marxism. The Ecstatic States of the Body in the White Panther Party around 1970, in: American Communist History 22, Nr. 3–4 (2023), S. 173–194.

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